Aleida Assmann - Erinnerungsräume
Zum einen entstehen Erinnerungsräume durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit, wie sie ein Individuum oder eine Gruppe zur Konstruktion von Sinn, zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns brauchen.
Solche an einen individuellen oder kollektiven Träger gebundene Erinnerung ist grundsätzlich perspektivisch angelegt; von einer bestimmten Gegenwart aus wird ein Ausschnitt der Vergangenheit auf eine Weise beleuchtet, daß er einen Zukunftshorizont freigibt.
Was zur Erinnerung ausgewählt wird, ist stets von den Rändern des Vergessens profiliert.
Hannah Arendt - Vita Activa
[Es] steht das Handeln nicht nur im engsten Verhältnis zu dem öffentlichen Teil der Welt, den
wir gemeinsam bewohnen, sonder ist diejenige Tätigkeit, die einen öffentlichen Raum in der Welt
überhaupt erst hervorbringt. Dabei ist es, als seien die Stadtmauern und die Schranken des
Gesetzes, welche die Polis einhegen um einen vor der Gründung der Stadt bereits bestehenden
öffentlichen Raum gezogen, der jedoch ohne die festlegende Grenzziehung sich in der Wirklichkeit
nicht hätte behaupten bzw. den Moment seiner Entstehung im Handeln und Sprechen nicht hätte
überdauern können. […] So ist die Polis genau genommen nicht die Stadt im Sinne ihrer
geographischen Lokalisierbarkeit, sie ist vielmehr die Organisationsstruktur ihrer Bevölkerung,
wie sie sich aus dem miteinander Handeln und -Sprechen ergibt; Ihr wirklicher Raum liegt
zwischen denen, die um dieses miteinander willen zusammenleben, unabhängig davon wo sie gerade
sind.
Charles Taylor - Quellen des Selbst
Der Nationalismus bringt, ebenso wie andere Sprößlinge des romantischen Expressionismus,
unweigerlich bestimmte narrative Darstellungen mit sich, die oft hanebüchene Erfindungen und
Anachronismen beinhalten und manchmal nahezu irreführend wirken, wenn recht willkürliche Akte
politischen Aufbaus in den Mantel erschwindelter Bejahrtheit gekleidet werden. Aber in der einen
oder anderen Weise braucht ein Volk, um eine Identität zu gewinnen, ein bestimmtes Bild seiner
Geschichte, seiner Genese, seiner Entwicklung - seiner Leiden und seiner Errungenschaften-, und
dieses Bild entwirft es dann auch.
Elias Canetti - Masse und Macht
"Oft sieht es so aus, als ob eine Masse überfließe, aus einem Raum, in dem sie wohlgehütet war,
auf den Platz und auf die Straßen einer Stadt, wo sie, alles an sich ziehend und allem
ausgesetzt, sich frei ergeht. Wichtiger als dieser äußere ist aber der innere Vorgang, der ihm
entspricht: die Unzufriedenheit mit der Begrenztheit in der Zahl der Teilnehmer, der plötzliche
Wille anzuziehen, die leidenschaftliche Entschlossenheit, alle zu erreichen.
Seit der Französischen Revolution haben diese Ausbrüche eine Form bekommen, die wir als modern
empfinden. Vielleicht weil sich die Masse vom Gehalt der traditionellen Religionen so weitgehend
frei gemacht hat, ist es uns seither leichter, sie nackt, man möchte sagen, biologisch zu sehen,
ohne die transzendenten Sinngebungen und Ziele, die sie sich früher einimpfen ließ. Die
Geschichte der letzten 150 Jahre hat sich zu einer raschen Vermehrung solcher Ausbrüche
zugespitzt; selbst die Kriege sind in sie einbezogen, sie sind zu Massenkriegen geworden. Die
Masse begnügt sich nicht mehr mit frommen Bedingungen und Verheißungen, sie will das größte
Gefühl ihrer animalischen Stärke und Leidenschaft selbst erleben und benutzt zu diesem Zwecke
immer wieder, was sich ihr an sozialen Anlässen und Forderungen bietet.
Es ist wichtig, als erstes einmal festzustellen, daß die Masse sich nie gesättigt fühlt. Solange
es einen Menschen gibt, der nicht von ihr ergriffen ist, zeigt sie Appetit. Ob sie diese auch
behalten würde, wenn sie wirklich alle Menschen in sich aufgenommen hätte, kann niemand sicher
sagen, doch ist es sehr zu vermuten. Ihre Versuche, bestehen zu bleiben, haben etwas
Ohnmächtiges. Der einzig aussichtsreiche Weg dazu ist die Bindung von Doppelmassen, wobei dann
eine Masse sich an einer anderen mißt. Je näher sich diese sind, an Kraft und Intensität, um so
länger bleiben die beiden die sich messen, am leben."
Charles Taylor - Quellen des Selbst
Das fortwährende Wohlergehen von sich selbstregierenden Gesellschaften ist einer Reihe wichtiger
Bedingungen unterworfen [...]. Zu diesen Bedingungen gehört auch das ausgeprägte Gefühl der
Staatsbürger, sich mit ihren öffentlichen Einrichtungen und dem politischen Leben identifizieren
zu können. Eine weitere Bedingung ist womöglich die Dezentralisierung der Macht, wenn die
zentralen Institutionen zu distanziert und zu
bürokratisch
sind, um von sich aus ein bleibendes Gefühl der Beteiligung
zu tragen. Diese Bedingungen sind einer gewissen Bedrohung ausgesetzt in unseren überaus
konzentrierten und mobilen Gesellschaften, die in wirtschafts- und verteidigungspolitischer
Hinsicht von instrumentalistischen Überlegungen beherrscht werden. Schlimmer ist, das die vom
Instrumentalismus geförderte atomistische Einstellung den Menschen das Bewusstsein von diesen
Bedingungen nimmt, so daß sie getrost Maßnahmen unterstützen, die ihnen selbst schädlich sind -
so etwa im Zuge der vor kurzem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten durchgeführten
Maßnahmen zur Kürzung von Wohlfahrtsprogrammen und zur regressiven Einkommensumverteilung, durch
die die Grundlagen der Gemeinschaftsidentifikation unterhöhlt werden. Der Atomismus hat unser
Bewusstsein des Zusammenhangs zwischen der Handlung und ihren gesellschaftlichen Folgen derart
vernebelt, daß sich dieselben Menschen, die durch ihr mobiles und wachstumsorientiertes Leben
stark zur Vermehrung der Aufgaben des öffentlichen Sektors beigetragen haben, am lautesten
dagegen verwahren ihren Anteil an den Kosten der Erfüllung dieser Aufgaben zu bezahlen
Rita Laura Segato - Corona oder: Die idiotische Leugnung des Todes
' "Die Interaktionen, die ich in dieser frühen Phase der Virtualität beobachtete, offenbarten
„den omnipotenten Charakter des zeitgenössischen Internet-Subjekts und seine ‚Teleskopie‘“.
Meiner Interpretation zufolge führt die Möglichkeit, „so zu tun, als könne der Körper in der
kybernetischen Umgebung diskursiv erfunden werden, zu einem Allmachtsgefühl und verstärkt die
Aggressivität der Subjekte“. Dieses „zeitgenössische Symptom“, folgerte ich in jenem Text,
„resultiert aus der Annahme der Sprecher im Cyberspace, sie könnten so miteinander reden, als
existiere der Körper nicht“. Hier tritt eine „Besonderheit des westlichen Subjekts der
Gegenwart“ zutage, „die mit bestimmten Kommunikations- und Kriegstechnologien verknüpft ist;
diese fördern oder erleichtern eine Positionierung, die es den Subjekten ermöglicht, so zu tun,
als würden sie die von der Materialität der – eigenen oder fremden – Körper gesetzten Grenzen
nicht spüren“. Dies hat damit zu tun, dass der Körper das „erste andere, die erste Erfahrung der
Grenze, der erste Schauplatz von Unvollständigkeit und Mangel“ ist.
„Wenn (diese Grenze) verworfen wird [im Sinne der Lacanschen forclusion/Verwerfung, d. Übs.] –
und diese Verwerfung durch ein technologisches Dispositiv potenziert wird –, hören alle anderen
Formen der Alterität, der Verschiedenheit, auf, jene Grenze zu bilden, die das Subjekt benötigt,
um sich im eigentlichen Sinne als soziales Subjekt zu begreifen. Wir haben es mit einer
regressiven Realität zu tun, die Ergebnis der narzisstischen Phantasie der Ganzheit und der
Weigerung ist, sich selbst als kastriert, als durch das materielle Dasein, den eigentlichen
Indikator von Endlichkeit, begrenzt zu erkennen.“[5] Ein Körper, der nur als Phantasie existiert
– als ein von einem allmächtigen, übersteigerten Ego erschaffenes Ding –, kann nicht als
sterblicher Körper gedacht werden." '
Skizze _ Oberhausen Rathaus
Das auf Form reduzierte S/W Negativ wird flächig überlagert durch perspektivisch gebrochene
Mittelformat Farb Positive
Skizze _ Marl Rathaus
Das auf Form reduzierte S/W Negativ wird partiell überlagert vom Mittelformat Farb Positiv
Skizze _ Essen Rathaus
Das auf Form reduzierte S/W Negativ deckt sich mit dem Farb Positiv
Charles Taylor - Quellen des Selbst
"Normative Ordnungen müssen ihre Ursprung im Willen haben. Besonders augenfällig wird das in der
im siebzehnten Jahrhundert aufgestellten Theorie der Legitimität durch einen Vertrag. Im
Gegensatz zu früheren Vertragstheorien geht die, welche wir bei Grotius und Locke antreffen vom
Individuum aus. Die Zugehörigkeit zu einer politischen Ordnung, der man Loyalität schuldet,
setzt nach dieser Auffassung voraus, daß man ihr seine Zustimmung erteilt hat. Rechtmäßige
Unterwerfung kann ihren Ursprung nicht wie von den klassischen Theorien unterstellt einfach in
der Natur haben. Die radikalste Formulierung dieses Gedankengangs wurde in der Moralphilosophie
erst von Kant entwickelt.
In der Zwischenzeit spielt der neue Freiheitsbegriff, der zum Teil aus einer Übertragung der
Vorrechte Gottes auf den Menschen hervorgegangen ist, bereits eine gewisse Rollte bei der
Bildung des utilitaristischen Denkens und seiner theoretischen Vorläufer. Der politische
Atomismus von Hobbes steht offensichtlich in Verbindung mit seinem Nominalismus sowie mit seiner
Anschauung wonach das Gute für jeden einzelnen durch die eigenen Wünsche bestimmt werde. Beides
sind Theorien, die den spätmittelalterlichen Rechtfertigungen des theologischen Dezisionismus
offenbar eine Menge verdanken. Politisches Recht wird durch eine willkürliche Entscheidung
hergestellt. Im voltentwickelten Utilitarismus kommt die Betonung des neuzeitlichen
Freiheitsbegriffs dann in der Ablehnung der Bevormundung durch andere zum Vorschein. Ein jeder
könnte für sich selbst am besten beurteilen, worin das eigene Glück bestehe. Die Ablehnung der
Vorstellung, das für uns Gute sei in einer natürlichen Ordnung begründet, wird von den
Utilitaristen als Verwerfung des Paternalismus angesehen. Diese sei nicht nur aus
erkenntnistheoretisch-metaphysischen Gründen gerechtfertigt, und nicht nur als Bejahung des
Werts des gewöhnlichen Lebens sei sie angemessen, sondern nach dieser Anschauung fundiert sie
auch die Freiheit des einzelnen, die Ziele des eigenen Lebens und die eigene Glücksdefinition
selbst zu bestimmen."
Max Weber _ Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
Charles Taylor _ Quellen des Selbst